Transkript eines Teils aus der Frage-/Antwortsitzung mit Hadhrat Khalifatul Masih IV (rh) am 11. September 1993 in Nasir Bagh (Groß-Gerau)
Frage
Im Islam ist es sehr wichtig, kein Geld zu horten, sondern es am Laufen zu halten. Welche Ansicht hat der Islam, Geld in das kapitalistische Börsensystem zu stecken?
Antwort
Das islamische Wirtschaftssystem funktioniert nach einem anderen Prinzip, und Sie müssen dieses System verstehen, bevor Sie eine Antwort auf die Frage erhalten, die Sie konkret gestellt haben. Es gibt zwei Möglichkeiten, Kapital in die Arbeitsmaschinerie der Wirtschaft zu ziehen – das Kapital in Umlauf zu bringen, damit es die Räder der Wirtschaft drehen und sie am Laufen halten kann.
Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, Kapital mit Gewinnen zu belohnen, so dass man Kapital abziehen und es nach Belieben einsetzen kann. Das heißt, es gibt zwei Werkzeuge, die in der Gesellschaft geschaffen wurden. Eins ist die geringere Anziehungskraft der Kapitalmagnaten und das andere eine viel größere und diffuse Anziehungskraft der Gesellschaft als Ganzes. Das grundlegende Prinzip, das in diesem kapitalistischen System verstanden werden kann, ist, dass Geld „Kinder gebärt“, d.h. Geld direkt schafft. Man nimmt an, dass die Qualität von Grund auf gegeben ist.
Der Islam weigert sich, diese Gedanken zu akzeptieren. Der Heilige Prophet des Islam (saw) stellte einmal die Frage an jemanden, der sich nach Zinsen erkundigt hatte: „Bringt dein Geld Kinder zur Welt?“, d.h. reproduziert es sich, wenn man es untätig herumliegen lässt? Die Antwort war natürlich „Nein“. Daraus wird ersichtlich, dass der Islam Geld als einen trägen Faktor in einer Wirtschaft betrachtet; in der Tat ein Faktor, aber ein träger Faktor, der sowohl positive als auch negative Rollen spielen kann, je nachdem, wer dieses Geld verwendet. Deshalb müssen menschliche Werte mit Geld verbunden werden, bevor es zu Ergebnissen führt. Wenn es sich bei diesen menschlichen Werten um negative Werte handelt und unverantwortliche Menschen an Geld kommen, dann wäre dieses Geld verschwendet und das gesamte Kapital würde im Nichts versinken. In anderen Fällen, wenn die Benutzer oder Usurpatoren dieses Geldes klug genug sind, um es zu einem Vorteil in der Wirtschaft einzusetzen, dann werden sie davon profitieren, aber der Gewinn der Person, die dieses Geld in die Banken, usw. leitet, wird ein begrenzter und ein fester Gewinn sein. Er wird in keinem Zusammenhang mit den Ergebnissen stehen. Wenn jemand, der Ihr Geld mit Zinsen erhält, alles verliert, dann muss er entweder für den Rest seines Lebens tief in die Tasche greifen oder er müsste sich für Bankrott erklären.
Dieses System lädt also auch zu allen Arten von Betrügereien ein, und darauf stößt man im Alltag in Europa. Gerade in England nutzen gerade in diesen Tagen viele Betrüger dieses System zu ihrem Vorteil, fressen das Geld auf, so gut es geht, und melden dann ihren Bankrott. Mit ihnen versinken die Wirtschaften von Millionen von Menschen.
Der Islam glaubt nicht an das Prinzip der Reproduktion des Geldes durch sich selbst. Deshalb fördert der Islam den Aktienbesitz, einen Vertrag, bei dem der Verleiher des Geldes am Ergebnis beteiligt wird. Wenn es zu einem Verlust führt, würde er den Verlust erleiden und wenn es einen Gewinn bringt, wird er am Gewinn teilhaben. Nun, das erfordert sehr vorsichtige Entscheidungen seitens des Verleihers und einen höheren Standard an Ehrlichkeit und Integrität in der Wirtschaft, sonst kann das System nicht funktionieren. Daraus ergibt sich also ein Vorteil für die Gesellschaft: Nur diejenigen, die ehrlich sind und sich den Ruf der Integrität erworben haben, halten sich auf dem Markt über Wasser. Die anderen werden einfach ausgelöscht. Das ist die islamische Haltung.
Der zweite Teil der Frage ist aber noch nicht beantwortet: „Wie würde der Islam das Kapital dazu zwingen, in wirtschaftliche Bahnen gelenkt zu werden?“
Der Islam verfolgt den Ansatz, eine progressive Geldstrafe für nicht genutztes Kapital zu verhängen. Dem Islam zufolge wird Kapital geschaffen, um die Räder der Wirtschaft in Gang zu bringen, und niemand hat das Recht, Kapital zu horten. In dieser Hinsicht ist das Kapital das Gemeineigentum der Nation. Es kann nur dann individuelles Eigentum sein, wenn es einem bestimmten Zweck dient. Wenn es untätig herumliegt, muss es mit einer Geldstrafe belegt werden. Das islamische System der Zakat ist genau diese Geldbuße, die gegen untätiges Kapital verhängt wird. Wenn im Islam das Kapital, das Einzelpersonen gehört, nicht in einigen Wirtschaftsprojekten eingesetzt wird, verringert es den Wert des Kapitals für diese Person. Das heißt, die Kosten des Hortens werden von denen, die Geld horten, an die Nation gezahlt. Sie sind also gezwungen, es in die Wirtschaft zu drücken, und dort braucht es, wie bereits erläutert, bessere Menschen, ehrlichere Menschen, fähigere und kompetentere Menschen, um dieses Kapital zu nutzen.
Wenn man sich nun die Geschichte des Islam ansieht, dann wird man zu verstehen, dass die ehrlichsten und frommsten Menschen die größten „Kapitalisten“, wenn man sie so nennen will, die waren, die das Kapital für die Wirtschaft nutzten. Hadhrat Imam Abu Hanifa (rh), einer der am meisten verehrten Juristen im Islam, dessen Rechtssystem heute von der größten Zahl der Muslime befolgt wird, war auch ein scharfsinniger Geschäftsmann. Die Menschen warfen ihm Geld nach. Einige hinterließen vor seiner Tür Beutel voller Geld mit der Botschaft: „Verwende es Gott zuliebe und lass uns den Gewinn teilen“. Wenn er also dieses Geld verwenden konnte, teilte er den Gewinn gleichmäßig auf. Meistens profitierten die Menschen von seinem Intellekt und seiner Erfahrung, und das geschah auch in vielen anderen Fällen. Integrität wurde durch das Wirtschaftssystem des Islam unterstützt, während auf der anderen Seite Unehrlichkeit und Betrug durch das System des Wucherns unterstützt werden.
Ich denke jedoch, dass die Frage in einem bestimmten Bereich etwas genauer untersucht werden muss. Der komparative Vor- oder Nachteil der beiden Systeme tritt bei Wirtschaftskrisen ins Rampenlicht, wie wir sie kürzlich in England gesehen haben. Diejenigen Unternehmen, die in den müßigen Tagen der Wirtschaft mit gegen Zinsen geliehenem Geld arbeiten, müssen zusammenbrechen. Es gibt keine Überlebenschance für sie, weil sie viel bezahlen müssen, obwohl sie nichts verdienen und nicht von dem Geld profitieren, das sie geliehen haben. Im Islam ist es genau umgekehrt. Wenn das Geld in den Händen desjenigen, der es geliehen hatte, untätig wird und die Produktion aufgrund einer Krise gedrosselt werden muss, dann muss auch der Kreditgeber die Last mit dem Kreditnehmer teilen. Solche Unternehmen werden viel längere Perioden zum Erholen erhalten, wie die Tiere, die im Winter Winterschlaf halten. Das islamische System bietet also die Möglichkeit des Winterschlafs, während das westliche kapitalistische System dies nicht vorsieht.
Frage
Warum verbietet der Islam die Verwendung von Zinsen?
Antwort
Dies ist eine kurze Frage, die eine sehr lange Antwort erfordert, und ich bezweifle, dass wir in diesem Forum genügend Zeit haben, da ich nicht die gesamte Zeit einer einzigen Frage widmen kann. Obwohl ich nicht erschöpfend sein kann, werde ich versuchen, eine zufriedenstellende, aber kurze Antwort zu geben.
Die Frage bezieht sich nicht nur auf die Bedürfnisse des Einzelnen, die Frage des Interesses und seines Verbots im Islam ist ein viel umfassenderes Thema. All jene Finanzsysteme, die mit Wucher und Zinsen betrieben werden, nennt man kapitalistische Systeme. Sie alle haben inhärente Schwächen, die letztlich immer die Menschen, die in diesen Gebieten leben, unter den Folgen leiden, unabhängig davon, ob sie selbst direkt an dem System beteiligt sind oder nicht. Ich kann nicht ausführlich zu diesem Thema sprechen, aber ich kann Ihnen ein einziges Beispiel geben, um meinen Standpunkt zu veranschaulichen.
Eine Gesellschaft, die sich gegen Zinsen Geld leihen kann, erhält die Erlaubnis, ihre Zukunft in der Gegenwart zu verbringen. Wenn ich zum Beispiel etwas Geld brauche, um es für ein luxuriöses Auto, ein gutes Hotel, ein Haus oder einen anderen Luxusartikel auszugeben, und die Höhe meines Verdienstes zu gering ist, meine Ungeduld aber grenzenlos ist und ich nicht warten kann, bis ich genug verdient habe, um meinen Wunsch zu erfüllen, dann bietet mir das auf Wucher basierende System oder das Zinssystem die Möglichkeit, Geld von den Banken zu leihen. Anscheinend leihe ich mir Geld von meiner eigenen Zukunft, sodass ich im Laufe der Zeit immer ärmer werde und es mir manchmal fast unmöglich wird, die Schulden abzuzahlen, mit denen ich mich belastet habe. Nun ist dies nicht nur ein individuelles Problem. Von da an wird es zu einem nationalen Problem und wird immer komplexer.
Die Industrie, die in diesem System floriert, stellt sich auf den Bedarf des Tages oder des Jahres ein und erweitert sich selbst auf einen Bedarf, der nicht natürlich, sondern künstlich gefördert wird. Nach einer Weile nimmt die Kaufkraft immer mehr ab, bis sie eine Pattsituation erreicht. Die Kaufkraft des Landes als Ganzes wird sehr gering, und der Schuldendienst selbst wird für das Land zu einem riesigen Problem, das es zu überwinden gilt. Die Industrie und der Handel leiden stark darunter. Das Ergebnis ist, dass in solchen Zeiten Wirtschaftskrisen auftreten.
Nun können sich jene Länder, die über genügend Außenhandelsmöglichkeiten verfügen, um sich in Krisenzeiten selbst zu versorgen, eine Zeit lang selbst durchschlagen. Aber wenn eine große Anzahl fortgeschrittener Länder gleichzeitig in eine Krise gerät, dann ist es unmöglich, eine solche falsche Wirtschaft zu unterstützen. Die Finanzkrise, die sich vor kurzem in England ereignete, wurde mir in meinem Vortrag vor einigen Jahren im Queen Elizabeth II Conference Center vorhergesagt, als ich deutlich sagte, dass ihr Zinssystem sie in viel tiefere Schwierigkeiten bringen wird, als sie glaubten. Genau das ist geschehen, und das Problem wird sich weiter ausweiten.
Wegen der politischen Veränderungen in Osteuropa hat sich die Krise in Westeuropa aus bestimmten Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, eine Zeit lang verzögert. Aber sie wird kommen. Ausländische Märkte bleiben begrenzt. Blut wird bei den Leuten aus Afrika abgesaugt, dass die an Anämie und perniziöser Anämie leiden.
Wenn der Wettlauf in Europa um die Erschließung weiterer ausländischer Märkte, sagen wir, in etwa fünf Jahren realisiert wird, dann wird man erkennen, wie intensiv das Problem sein und wie bedrohlich es werden wird. Deutschland selbst durchläuft eine Phase des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der Aufnahme der großen Anzahl von Deutschen aus dem Osten. Unter ihnen befindet sich exzellentes Know-how und Fachwissen, das in der Vergangenheit mit sehr wenig Lohn belohnt wurde. Sie sind jetzt ein Teil der westdeutschen Wirtschaft und stehen auf gleicher Augenhöhe, und so wird das Produktionsniveau nach einem ersten Schock so schnell steigen, dass der Rest von Europa vor der Aussicht auf die angekurbelte deutsche Wirtschaft erschaudern wird. Dann wird der Wettlauf um ausländische Märkte erst richtig beginnen. Russland wird auch nicht das Russland von heute bleiben, das noch unter den Folgen der Zerstörung des kommunistischen Systems leidet. Russland ist dabei, sich neu zu gruppieren. Seine Wirtschaft wird sich wieder erholen. Der heutige Zustand Russlands erinnert uns an das große Werk von Milton, Paradise Regained, in dem sich die Armeen Satans nach dem anfänglichen Schock neu formieren, um das Paradies wieder zurückzuerobern. Deshalb sollte man Russland keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen.
Die UdSSR ist ein riesiges Land oder eine Reihe von zusammengeschlossenen Ländern, deren Wirtschaft möglicherweise stärker ist als die vieler europäischer Länder. Sobald sie die Zeit bekommen, sich neu zu gruppieren und ihr System in ein kapitalistisches zu verwandeln, wird ein ähnlicher Verlauf wie in Deutschland folgen. Stellen Sie sich nun also die Situation in Europa mit abnehmender Kaufkraft, zunehmenden wirtschaftlichen Problemen und zunehmendem Wettbewerb vor. Solche Krisen führen immer zu Krieg, und dies ist ein grundlegendes Prinzip, das niemals abgestritten werden kann. Deshalb sagt der Heilige Koran beim Verbot von Wucher oder Zinsen, dass du, wenn du vom Wucher nicht ablässt, bereit sein musst, mit Allah und Seinem Propheten in den Krieg zu ziehen, was bedeutet, dass das göttliche System im Widerspruch zu dir stehen würde und du zwangsläufig in eine Kriegssituation gerätst. Dies ist also die kürzest mögliche Antwort, die ich geben konnte, aber es gibt noch viel mehr zu sagen.
Im Original erschienen unter dem Titel Investment, Interest & Islam in The Review of Religions (Onlineversion) am 1. August 2009, übersetzt von Saleh Ahmed